«Ich bestimme, wie ich mit dieser Krankheit lebe – nicht umgekehrt»

Mit 17 Jahren erhält Doris Rohner die Diagnose Multiple Sklerose. Jahre später lähmt ein Schub ihr Bein. Trotz Rückschlägen und schwierigen Momenten findet sie über den Sport zu neuer Stärke. Heute ist sie Schweizer Meisterin im Paraclimbing – und ein Vorbild für gelebte Selbstbestimmung.

Vamed Doris Rohner Portrait 02 Doris Rohner nimmt als erste Person im Rollstuhl am 50 Kilometermarsch in Bern teil.

Die Sonne strahlt, der Asphalt brennt. Es ist Kilometer 38 des 50-Kilometer-Marschs durch die Stadt Bern. Schulter an Schulter bewegen sich die Sportlerinnen und Sportler dem Ziel entgegen. Mitten in der Menge: Doris Rohner. Sie stützt sich erschöpft auf ihre Rollstuhlräder. Die Hände schmerzen, die Arme brennen. Doch aufgeben kommt nicht infrage. Als erste Rollstuhlfahrerin überhaupt nimmt sie am Megamarsch Bern teil. Eine verrückte Idee? Vielleicht. Für Doris hingegen ist es ein Beweis. Nämlich der, dass trotz ihrer MS-Einschränkung sehr vieles möglich ist. 

Eine Krankheit mit tausend Gesichtern
Doris Rohner umgibt eine besondere Energie. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend, genau wie das scheinbar unentwegte Lächeln, das sie im Gesicht trägt. Dieses Lächeln, es ist Ausdruck eines tief verwurzelten Optimismus, den sie nach aussen trägt – selbst dann, wenn ihr Körper gerade streikt. Seit ihrem 17. Lebensjahr lebt Doris mit Multipler Sklerose, kurz MS. Eine Krankheit, die das zentrale Nervensystem angreift. Und die sich bei Betroffenen ganz unterschiedlich manifestiert: Von einer stetigen Verschlechterung der Motorik über plötzliche Schübe, die Symptome wie Sehstörungen oder kognitive Einschränkungen hervorrufen, wird sie deshalb auch als «Krankheit der tausend Gesichter» bezeichnet. Bei Doris sind es vor allem Spastiken in den Beinen, die sie lähmen, begleitet von einer chronischen Fatigue. «Mittlerweile weiss ich gut, ob mein Körper Ruhe braucht oder ich ihn weiter pushen sollte», erklärt sie. Wichtiges Wissen, das ihr den Alltag sehr erleichtert. Und dass sie sich über die Jahre aufgebaut hat.

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Vamed Doris Rohner Portrait 04 Bearbeitet

Ein Schub, der alles verändert
Die Diagnose Multiple Sklerose trifft die junge Frau damals wie ein Schlag. Anstatt sich der Realität zu stellen, verdrängt sie die Krankheit und lebt weiter wie bisher. Sie schliesst ihre Ausbildung zur Medizinischen Praxisassistentin ab, geht gern an Partys, bereist die Welt und kämpft leidenschaftlich gern Judo. Erst Jahre später, mit Mitte 20, wird ein starker MS-Schub ihre Beweglichkeit markant einschränken und die Krankheit damit zum festen Bestandteil ihres Lebens machen. Dank der Unterstützung von Familie und Freunden, aber auch durch die gute Begleitung in der Rehaklinik Zihlschlacht lernt Doris, die Krankheit anzunehmen. Sie findet ihren Optimismus wieder – doch von einer vollständigen Akzeptanz ist sie noch weit entfernt. Ungewissheiten, wie es etwa mit ihrem Job weitergeht, treiben sie um.

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Vamed Doris Rohner Portrait 03 Bearbeitet
Vamed Doris Rohner Portrait 05 Bearbeitet Doris Rohner änderte die Einstellung zu ihrer Krankheit.

Und sie verweigert die Nutzung des Rollstuhls. «Ich wollte mir das Laufen einfach nicht nehmen lassen», blickt sie zurück. «Vermutlich war es mein Widerwille, als «krank» oder «anders» angesehen zu werden.» Doris Rohner versuchte, mit ihrem erkrankten Körper die Erwartungen an eine gesunde Person zu erfüllen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. «Ich stellte in allen Lebensbereichen Ansprüche an mich, die ich gar nicht erfüllen konnte», sagt sie heute. Ihr wird klar, dass sie die Einstellung zur Krankheit ändern muss. Doch was half ihr, die Perspektive zu wechseln? «Meine grosse Leidenschaft, den Sport», sagt sie lachend.  

Vamed Doris Rohner Portrait 07 In nur vier Jahren wird Doris Rohner zur Profi-Kletterin mit Wettkampferfolgen und Meistertiteln.

Vom Leistungsdruck zur Leichtigkeit
Doris Rohner entdeckt mit dem Rudern und Klettern neue Sportarten für sich. Und in einem Rudertraining mit anderen Menschen mit Handicap fällt ganz plötzlich der Druck weg. «Vorher trainierte ich mit Sportlerinnen und Sportlern, die gesund waren. Vieles im Training ging, aber eben nicht alles.» Sie ist zunehmend frustriert: Ihr ganzes Leben lang war sie polysportiv unterwegs und nun sollte sie nicht mehr mithalten können? «Erst als ich bei einem Angebot von PluSport mittrainierte, kam die Einsicht: Es ist okay, so wie es ist.» Das PluSport-Klettern gibt ihr Raum für neue Inspiration. Wie geht diese Person die Übung an? Und was kann ich davon mitnehmen? Dank dieser Momente lernt Doris ihren Körper und seine neuen Bedingungen kennen und akzeptieren. «Und damit kam ganz viel Leichtigkeit zurück.» 

Neue Türen öffnen sich
Die wachsende Akzeptanz öffnet Doris neue Türen. 2021 wagt sie sich zum ersten Mal an die Kletterwand und findet eine Leidenschaft, die sie fortan nicht mehr loslässt. Für die ambitionierte Sportlerin ist schnell klar: Sie will mehr. Innerhalb kürzester Zeit wird sie erfolgreiche Paraclimberin, wird Mitglied des nationalen SAC Swiss Para Climbing Team, gewinnt 2022 die Schweizer Meisterschaft und nimmt 2023 bereits an der Heim-WM in Bern teil. «Das Klettern hat mir neuen Aufschwung gegeben. Vielleicht auch, weil es metaphorisch für mein Leben steht», so die Sportlerin. «Immer ein Ziel vor Augen haben, egal wie anstrengend der Weg dahin auch ist.»

Ein Vorbild für viele
Heute lebt die 38-Jährige mit ihrem Körper grösstenteils im Einklang. Sie nimmt ihre MS nicht mehr als Gegnerin wahr. Im Gegenteil: «Meine MS und ich sind gute Freundinnen. Oftmals verstehen wir uns, aber wenn sie zickt, zicke ich zurück», lacht sie. «Ich entscheide, wie ich mit dieser Krankheit lebe – nicht umgekehrt.»

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Vamed Doris Rohner Portrait 08 Bearbeitet

Wie sie mit den körperlichen Einschränkungen umgeht, ist inspirierend. Und deshalb ist Doris ein Vorbild für viele Menschen. Das zeigt sich immer wieder im Austausch mit anderen Athletinnen und Athleten, aber auch mit Zuschauenden an Sportveranstaltungen, bei denen sie mithilft. Regelmässig entstehen angeregte Gespräche. Ihre Botschaft: Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, ob gesund oder mit Handicap. «Wenn ich merke, dass ich mit meiner Geschichte andere Menschen inspiriere, berührt mich das. Ich kann Mut machen, dass sie ihre eigenen Ziele verfolgen.» Auch Doris hat ihr nächstes grosses Ziel bereits ins Visier gefasst: die Teilnahme an den Paralympics 2028 in Los Angeles. Mit im Gepäck, wenn sie zurückkehrt: Hoffentlich eine Medaille für die Schweiz.

Mehr Informationen zu den MS-Therapien in der Rehaklinik Zihlschlacht finden Sie hier.