«Die Weichen neu gestellt»

Alles ist normal. Und dann nicht mehr. Der Mast kippt, reisst Herbert mit sich und wirft dessen Leben auf ein ganz neues Gleis.
Herbert öffnet die Augen, versteht zuerst nicht, wo er ist. Über ihm baumeln medizinische Geräte

Text: Chara Frangos


«Die Weichen neu gestellt»

Die Leitung Marketing und Kommunikation bei der Rehaklinik Zihlschlacht, besucht Herbert in seinem neuen Zuhause. Gemeinsam erleben sie noch einmal die Geschichte seiner Genesung, vom Unfall bis zur neuen Normalität. 
Der Kaffee in der kleinen Tasse duftet aromatisch, wir haben es uns in der Essecke bequem gemacht. Alles atmet Normalität, Alltag in einem Block in einer kleinen Wohnsiedlung in St.Gallen. An der Wand neben dem Fenster hängen Erinnerungen, Basteleien, Postkarten von Freunden und von den Söhnen. Leuchtende Farben auf Karton, auch etwas Glitzer. Es könnte die Wohnung einer beliebigen Schweizer Durchschnittsfamilie sein. Es ist aber genau diese Normalität, in der für Herbert das Aussergewöhnliche liegt. Herbert setzt sich an den Tisch, die blonden Haare verstrubbelt, der kleine Ziegenbart keck abstehend. Herbert ist bereit für das Gespräch. 

Rückblende 2017.
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Es ist halb drei Uhr nachts, Herbert bereitet sich am Bahngleis auf seinen Einsatz am Mast vor. Er ist für die Wartung und den Unterhalt der Strommasten zuständig, stolz auf seinen Beruf, ernsthaft in der Verantwortung. Er zieht sich die Steigeisen an, erklimmt den Mast, beginnt in zehn Metern Höhe mit geübten Handgriffen seine Arbeit. Alles ist normal. Und dann nicht mehr. Der Mast kippt, reisst Herbert mit sich und wirft dessen Leben auf ein ganz neues Gleis.

Böses Erwachen
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Herbert bringt eine weitere Tasse Kaffee, er ist stolz auf seine Maschine. Maschinen mag er. In seiner Freizeit bastelt er an Modellen, Autos, Flugzeuge, deren Leimduft ein Gefühl von Werkstatt in die ordentliche Mittelstandswohnung haucht. Die Feinmotorik, die notwendig ist, um die kleinen Arbeiten an den massstabgetreuen Miniaturen zu meistern, ist für Herbert keine Selbstverständlichkeit, sie ist ein kleiner Sieg, jedes Mal. «Ich kann wieder gehen, stehen, denken», sagt er und weist mit einer Geste auf Beine und Kopf. Das ist nicht selbstverständlich, und man sieht ihm Dankbarkeit und auch ein wenig Trotz an. Trotz gegen ein Schicksal, das er sich nicht aussuchte, welches er aber annahm und überwand. 

Rückblende 2017.
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Herbert öffnet die Augen, versteht zuerst nicht, wo er ist. Über ihm baumeln medizinische Geräte, er bemerkt, dass er ein Nachthemd trägt. Er blickt sich um, entdeckt zwei Rücksitze, einen Metallschrank. Er hat nicht die geringste Ahnung, wo er ist. Auf der Baustelle jedenfalls nicht. Später teilt man ihm mit, dass er acht Wochen im Koma lag, aufgewacht ist er im Krankenwagen, bei der Verlegung vom Spital St.Gallen in die Rehaklinik Zihlschlacht. Als Ersthelfer und Schichtsanitäter auf der Baustelle erkennt er die Situation. Katheter, Infusion. In Zihlschlacht angekommen, erfährt er, dass sein rechter Fuss beim Sturz fünf Mal gebrochen war, sein linker sieben Mal, beide Knie zertrümmert, die Hüfte gebrochen, Ellenbogen gerissen. Er zog sich schwere Kopfverletzungen zu, ein Auge konnte nur durch eine Spezialoperation gerettet werden. Überlebt hat er den Sturz, weil seine Arbeitskollegen ihn fünfundvierzig Minuten lang mit einer Herzmassage am Leben hielten. Abwechslungsweise.

Grosse Veränderung

Herberts neue Normalität ist nicht seine alte Normalität. Der Unfall hat die Weichen neu gestellt. Doch Stück für Stück konnte er sich seine Selbstständigkeit, seine Lebensfreude, seinen Humor wieder aneignen. Vor allem seinen Humor. Und seinen sturen Kopf. Natürlich ging das nicht ohne Rückschläge und Kapriolen. Auf dem Wilen, einer eigenen Station für Reha-Patient:innen mit kognitiven Schwierigkeiten, rebelliert er gegen sein Schicksal und seine Verletzungen. «Mit dem Rollstuhl habe ich einen kleinen Ausflug aus der Abteilung gemacht, ohne jemanden zu informieren, einfach durch den Notausgang». Die Pflege war nicht begeistert, wohl auch, weil er mit dem Rollstuhl die Feuertreppe hinunterfuhr und das Gefährt dabei verschrottete sowie sich selber gefährdete. Er lacht, aber er hatte Glück gehabt. Er zog sich keine neuen Verletzungen zu. Über den Tisch hinweg sieht man ins Wohnzimmer. Durch einen Türspalt blinzeln die bunten Spielsachen seiner Söhne. Wohl der Hauptgrund, warum er sich mithilfe von Therapeuten und Ärzten über Jahre zurück ins Leben kämpfte, in die Selbstständigkeit, oder eben in die neue Normalität, in der er wieder für seine Söhne da sein kann. 

Rückblende 2017.
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Die Prognosen sind nicht rosig, als Herbert in der Rehaklinik ankommt, er kann sein Bett nicht verlassen. Die Beine sind zu schwach, sein Gedächtnis angeschlagen. Doch auch mitten in diesem kognitiven Nebel der ersten Monate nach dem Unfall ist ihm klar, dass er sich zurück ins Leben kämpfen will. Therapeuten und Ärzten ist klar, dass dies Jahre dauern kann. Noch während seines Spitalaufenthalts und auch jetzt, in seiner Zeit in der Reha, leben seine beiden Söhne bei seiner Ex-Frau.

Harte Arbeit

In der Wohnung hört man ein kratzendes «Tschtschtsch» als Hintergrundgeräusch zu unserem Gespräch. «Das ist Tinka, der Hamster, den einer meiner Söhne mir gegeben hat. Ich soll auf mein eigenes Haustier aufpassen.» Aber sein Stolz gilt nicht dem Hamster, sondern seinem halbwüchsigen Sohn. «Inzwischen ist mein Sohn im Gymnasium. Er will unbedingt Doktor werden», erklärt Herbert ernst. Ein «Gstudierter» in der Familie lässt ihn selbst noch etwas staunen. Ich möchte wissen: Was war für dich das Wichtigste, das Eindrücklichste an der Reha? «Die Stunden beim Psychiater», meint er ohne Zögern. Das habe ihm sehr geholfen. Auch sei ihm die Zeit nicht zu lange vorgekommen. «Nein, jede Minute war wichtig, um auf meinen Weg zurückzufinden.» Nach der stationären Reha lebt Herbert zuerst sieben Wochen in einer Wohngruppe in Walenstadt. Die kleinen täglichen Aufgaben im Haushalt, die «Ämtli», sind ihm nicht zu viel, im Gegenteil, sie zeigen ihm, dass er wieder zupacken kann, wenn auch anfangs nur in ganz kleinen Dosen. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Nach sieben Wochen in der Wohngruppe erfolgt der nächste Schritt – ein kleines Studio zur Alleinnutzung. Auch in der jetzigen Wohngemeinde war der erste Schritt eine betreute Wohngruppe. Nach elf Monaten erfolgte der grosse Schritt in die aktuelle Selbstständigkeit. Szenenwechsel. Wir befinden uns in einer hellen, hohen Werkstatt der Stiftung arwole für betreutes Arbeiten in Sargans. Links, durch eine grosse Fensterfront, erhellt die vormittägliche Sonne den Raum, es duftet nach frisch gesägtem Holz und den Ölen zur Behandlung von Oberflächen. Die Mitte des Raumes wird von zwei langen Werkbänken beherrscht, an dem Angestellte konzentriert an Schnittbrettern mit Bergmotiv arbeiten. Herbert arbeitet an allen Stationen, von der Fräsmaschine hin zur Schleife, den Werkbänken oder bis zum Ölen der Holzprodukte.

Klare Ziele
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«Hier kann ich mich beschäftigen und habe eine Tagesstruktur, das ist wichtig für mich», betont er. Aber das ist nicht das Einzige. Neben den feinmotorischen Fähigkeiten, die ihm zu Hause das Basteln an kleinen Modellen erlauben, hat er sich hier bewiesen, dass er auch die Sicherheit im Umgang mit grösseren Maschinen zurückgewonnen hat. Kreissäge, Schleifband, Fräse – all das bedient Herbert, der eingefleischte Handwerker, wieder. Noch arbeitet er halbtags. «Meine Konzentration lässt noch immer rasch nach, aber das ist nicht schlimm, nachmittags brauche ich sowieso Zeit für meine Therapien.» Aber es sei schon befriedigend, wieder etwas leisten zu können. Herberts Weg ist noch nicht zu Ende. Nach einem Erlebnis wie seinem Unfall, nach dem das Leben seine Weichen neu gestellt hat, muss er sich weiter jeden Tag auf dem Weg in die Zukunft bemühen. Aber der Blick zurück zeigt ihm, dass es vorwärtsgeht. Und was schätzt er selbst am meisten an seiner neuen Normalität? Er lächelt verschmitzt: «Meine neue Freundin».

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Rehaklinik Zihlschlacht